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Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck
Wort des Bischofs zum 1. Januar 2022
Zu verlesen in allen Sonntagsgottesdiensten am 2. Sonntag im Jk C,
15. /16. Januar 2022
Liebe Schwestern und Brüder
I.
„Wir haben eine doppelte Klimakrise!“ Dieser Satz hat sich mir vor einigen Wochen eingeprägt.
Neben der Krise des ökologischen Klimas erleben wir derzeit eine Krise des gesellschaftlichen
Klimas. Die ökologische Klimakrise zeigt sich in steigenden Temperaturen und vielen damit
verbundenen Natur-Katastrophen. Die gesellschaftliche Klimakrise erleben wir in den immer
hitziger werdenden Auseinandersetzungen zu unterschiedlichen Themen. Es geht unversöhnlicher
zu und manche Debatten lösen mittlerweile Verwerfungen und Spaltungen aus. Viele von Ihnen
werden das aus ihrem persönlichen Umfeld kennen.
Das aus dem Griechischen stammende Wort „Krise deutet an, warum die gegenwärtige Zeit so
spannungsreich ist: Es kündigen sich Veränderungen an, die mit Trennung verbunden sind und
entscheidende Weichenstellungen verlangen. Wir spüren derzeit in vielerlei Hinsicht: Das Leben
auf dieser Erde verändert sich grundlegend und das wird auch dazu führen, dass sich unser ganz
persönliches Leben verändert.
Auch wenn der ökologische Klimawandel von manchen Personen immer noch verleugnet wird,
so sind sich die ernstzunehmenden Wissenschaftler dieser Welt einig: Unser Planet ist bereits
derart geschädigt, dass es ohne massive Veränderungen unserer Lebensweisen keine gute
Zukunft für die nachfolgenden Generationen auf unserer Erde geben wird. Die Veränderungen,
die notwendig sind, werden uns alle noch sehr massiv betreffen.
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Derzeit erleben wir durch die fortdauernde Corona-Pandemie eine weitere massive Krise, die
derart dramatisch ist, wie es die Nachkriegsgenerationen in unserem Land bisher nicht kannten.
Wir hatten uns daran gewöhnt, dass das Leben in jeglicher Hinsicht beherrschbar ist und sich
immer weiter zum Besseren entwickelt. Diese Pandemie aber führt uns vor Augen, wie sehr wir
hier einem Trugschluss erliegen: Die Welt und das Leben sind nicht nach Belieben beherrschbar.
Wir Menschen sind verletzlich, begrenzt und endlich.
II.
Sowohl die Krise der Corona-Pandemie, als auch die ökologische Klimakrise führen zu heftigen
Auseinandersetzungen. Beide Krisen greifen tief in das persönliche Leben ein und verlangen
erhebliche Einschränkungen. Ohne Verzicht und persönliche Verluste ist diese Krise nicht zu
bewältigen. Das widerspricht unseren tiefsten inneren Bedürfnissen nach gewohnter Sicherheit.
Darum erleben wir nun teilweise massive Auseinandersetzungen und Verwerfungen.
Wir brauchen in den gegenwärtigen Krisen dringend eine Haltung, die die Wirklichkeit ernst
nimmt und eingesteht, dass wir an Grenzen des Gewohnten stoßen. Dazu gehört es, Ohnmacht
zuzulassen und einander die vielen Ängste und Sorgen zuzugestehen. Es braucht Verständnis für
einander, um dann im Dialog gemeinsame Wege zu finden. Ich plädiere deshalb für eine
konstruktive Konfliktkultur, die das Eingeständnis voraussetzt, dass es in schweren Krisen
keine einfachen Lösungen gibt und nur im Miteinander eine Lage zu bewältigen ist, die jeden
einzelnen überfordert. Konstruktiv ist eine Kultur, in der jede und jeder bereit ist, einen Wechsel
in der Perspektive vorzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen zuzulassen, einander zu verstehen
und voneinander zu lernen. In einer solchen Kultur lassen sich dann in Konflikten Wege finden,
die von allen gegangen oder zumindest mitgetragen werden können. Sie sind verbunden mit
neuen Erkenntnissen und Einsichten sowie mit dem Wagnis, Vertrautes loszulassen und Neues zu
riskieren.
Die großen Herausforderungen des Klimawandels, aber auch der Corona-Pandemie sind
Beispiele für Krisen und Konflikte, die wir als Gesellschaft verantwortet und konstruktiv
austragen müssen. Die Bilder der schrecklichen Flutkatastrophe von Mitte Juli 2021, die auch
unser Bistum Essen im Märkischen Sauerland und anderswo hart getroffen hat, bleiben mir und
vielen unauslöschlich im Gedächtnis. Gleiches gilt aber auch für die Bilder der vielen Corona-
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Dramen in den Krankenhäusern, den Altenheimen, den Hospizen, aber auch zu Hause. Diese
Bilder weisen auf Krisen hin, die nicht einfach lösbar sind sondern konkretes Handeln
verlangen, das zu gravierenden Veränderungen des Lebens führt. Wenn wir die durch den
Klimawandel ausgelösten Katastrophen eindämmen wollen, müssen wir unser Leben verändern.
Und das gilt auch für die Überwindung der Pandemie. Es hilft dabei nicht, Krisen zu leugnen.
Der Klimawandel ist real und auch das Corona-Virus ist weit mehr als nur ein harmloser
Erkältungsvirus. Wenn die Erkenntnisse des weit überwiegenden Teils der Wissenschaft
übereinstimmen, dann ist es verantwortungslos, diese nicht ernst zu nehmen. Die unzähligen
Opfer des Klimawandels und der Corona-Pandemie verpflichten uns, ernsthaft nach Wegen zu
suchen, um diese Krisen zu bewältigen.
Die in unserer Gesellschaft zunehmenden Polarisierungen und oft unversöhnlich
gegenüberstehenden Meinungen beunruhigen mich sehr. Ich wünsche mir, dass wir Christen dazu
beitragen, die dahinter liegenden Ängste offen zu benennen, um dann besonnen miteinander
Ausschau zu halten nach neuen Wegen. Wir brauchen dazu einen geduldigen Dialog, der das
gegenseitige Verstehen ermöglicht. Was wir überwinden müssen, ist das gegenseitige Misstrauen.
Unterstellungen, Pauschalisierungen, Unsachlichkeiten und Schuldzuweisungen helfen nicht. Sie
verschärfen Konflikte und machen ein friedliches Miteinander unmöglich. Dass die Kräfte in
unserer Gesellschaft wachsen, die Misstrauen säen und auch unseren gemeinsamen
demokratischen Institutionen nicht mehr vertrauen, macht mir große Sorgen. Wie wollen wir
noch zusammenleben, wenn wir einander nicht mehr vertrauen und selbst in grundlegenden
Fragen keine Verständigung mehr finden?
III.
Als Christen befinden wir uns selbst auch in einer Krisensituation, die insbesondere durch den
Missbrauchsskandal zu einer existenziellen Krise unserer Kirche geworden ist. Krisen kündigen
oft einen Zeitenwechsel an. Das lässt sich erahnen am Synodalen Weg der Kirche in
Deutschland, ebenso aber auch am „Weltweiten Synodalen Weg“, den Papst Franziskus im
vergangenen Jahr begonnen hat. Es geht dabei darum, auf neue Weise die Weite des Evangeliums
zu entdecken und zugleich mutig und veränderungsbereit unsere Kirche neu zu gestalten.
Gerade die abscheulichen Taten der sexuellen Gewalt, des geistlichen Missbrauchs, aber auch
viele andere Leidenserfahrungen, die über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg unsere
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Kirche unheilvoll geprägt haben, fordern uns zu einer neuen Ehrlichkeit auf. Es ist nicht zu
leugnen, dass das schreckliche Unheil, das weltweit in unserer Kirche geschehen ist, nach
grundsätzlichen Veränderungen verlangt. Der Unmut von so vielen Gläubigen, die sich in diesen
Jahren entsetzt und enttäuscht von unserer Kirche abwenden, hat Gründe, die wir Bischöfe und
alle Verantwortlichen in unserer Kirche sehr ernst nehmen müssen. Es hilft nicht, mit Abwehr-
reflexen darauf zu reagieren oder gar denjenigen, die sich nach Veränderungen sehnen, böse
Absichten zu unterstellen.
Auch hier zeigen sich die Ängste vor Veränderungen, aber auch der Schmerz über so manche
Bewegungslosigkeit und Arroganz. Ich bin überzeugt: Wir haben uns heute jenen Fragen zu
stellen, die wie in einem Brennglas zeigen, dass die Kirche im 21. Jahrhundert vor einer
unglaublich großen Bewährungsprobe steht. Wir wollen als Kirche Teil einer Welt sein, in der
Freiheit und Gleichheit, aber auch die Würde des Menschen eine im Verhältnis zu bisherigen
Zeiten viel größere Rolle spielt. Dabei gerät unsere Kirche in schwere Konflikte, weil sich viele
ihrer Lehren und Überzeugungen einer langen Geschichte verdanken, die letztlich in der Heiligen
Schrift und in einer Tradition wurzeln, die mit der Offenbarung Gottes in Verbindung stehen. Das
betrifft auch viele unserer Strukturen bis hin zum Verständnis des priesterlichen Amtes. Vieles
steht massiv in Frage, was bislang nicht hinterfragbar schien. Das macht die Krise so existentiell
und dramatisch und es ist nicht leicht, sie zu lösen.
Wir spüren das auch in unserem Bistum, in unseren konkreten Gemeinden und Pfarreien: Es ist
nicht zu übersehen, wie viel hier schon seit Jahren in Frage steht und sich auch ganz konkret
auflöst. Unsere in großer Zahl schon aufgegebenen Kirchen bringen das symbolisch in trauriger
Weise zum Ausdruck. Aber wir sehen es auch am kontinuierlichen Sinken der Zahl unserer
Priester, wie aber auch am Sinken der Zahl aller anderen pastoralen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter. Die wenigen Berufungen zum priesterlichen Dienst sind dabei in besonderer Weise
ein alarmierendes Zeichen. Wenn dies so weitergeht, bricht die sakramentale Struktur in unserer
Kirche zusammen schon jetzt ist sie regelrecht bedroht.
Wir stellen uns in unserem Bistum darauf ein, eine deutlich kleinere Kirche zu werden. Wir
bemühen uns schon seit vielen Jahren, Antworten auf die Krise unserer Kirche zu suchen aber
vielleicht sind wir dabei immer noch zu sehr davon geprägt, uns nach einer Kirche der
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Vergangenheit zurückzusehnen. Vor uns liegt aber noch ein herausfordernder Weg, weil die
Krise weit mehr ist als eine Kirchenkrise, sondern eine Krise der Religion in der heutigen Zeit.
Die religiöse Bedürftigkeit der Menschen hat sich derart verändert, dass unsere spirituellen,
theologischen, liturgischen oder auch seelsorglichen Angebote die meisten Menschen von heute
nicht mehr erreichen. Vieles im Raum unserer Kirche trocknet aus oder ist bereits ausgetrocknet.
Und doch stimmt mich hoffnungsfroh, dass die Ströme der spirituellen Suche vieler Menschen an
Kraft gewinnt oft allerdings außerhalb unserer Kirche. So durchleben wir also eine Krise, die
von uns sowohl spirituell, als auch strukturell Entscheidungen abverlangen wird, die zu einer
echten Neu-Werdung unserer Kirche führen müssen.
IV.
Angesichts unserer existentiellen Kirchenkrise könnten wir Christinnen und Christen vielleicht
eine Vorbildfunktion wahrnehmen und eine echte konstruktive Konfliktkultur einüben. Auch
wenn wir selbst von Ängsten geprägt sind und Veränderungen fürchten, so leben wir doch von
der Verheißung, dass Gott alle unsere Wege mitgeht. Mit dieser Verheißung im Herzen kann die
Angst vielleicht kleiner werden und der Mut größer, miteinander etwas zu wagen. So schmerzhaft
die Abbrüche und Verluste unserer Kirche auch sein mögen, so bleibt doch Gottes Verheißung
bestehen. Deshalb brauchen wir nicht in Resignation zu versinken, sondern können mutig und
kreativ Neues suchen und ausprobieren über den Raum unserer Kirche in ökumenischer und
interreligiöser Verbundenheit hinaus.
Unsere Welt braucht das Vertrauen, dass es eine größere Kraft gibt, die uns hält, trägt und
begleitet, und die uns auch Orientierung gibt, um menschlich und solidarisch miteinander zu
leben. Als Christen glauben wir, dass alle Menschen aus einer persönlichen Gottesbeziehung
leben, die inspiriert und trägt. An Jesus Christus lassen sich viele konkrete Orientierungen für das
konkrete Leben ableiten vor allem jene Orientierung, sich stets an der Liebe und
Barmherzigkeit auszurichten, die das Wohl und die Würde eines jeden Menschen im Blick hat.
Aus seiner tiefen spirituellen Gottesbeziehung hat Jesus gelebt und lehrt uns heute, ebenso aus
einer spirituellen Tiefe die Wege zu suchen, wie wir heute dem Wohl und der Würde aller
Menschen dienen können. Aus dieser Haltung können wir unsere Kirche Schritt für Schritt weiter
entwickeln.
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Jesus selbst hat eine große Gelassenheit und Offenheit ausgestrahlt, die er aus seiner
Gottesbeziehung empfing. Er hat sich selbst als Weg bezeichnet, der in die Weite und in die
Freiheit führt. Du Herr führst mich hinaus ins Weite“, so heißt es im 18. Psalm. Die Kraft für
vieles, was uns aufgegeben ist, kann nicht aus uns selbst kommen, sondern kommt von dem Gott,
auf den wir setzen. Wenn wir so auf Gott schauen, dann kann eine Kultur unter uns wachsen, mit
der wir Konflikte konstruktiv leben und austragen können: Niemand von uns Menschen weiß die
ganze Wahrheit, kennt die Lösungen und die richtigen Wege angesichts so vieler Krisen. Wir
dürfen aber auf Gottes Unterstützung setzen, dessen Geist sich zeigen kann in den Perspektiven
und Auffassungen anderer, im Ringen um Positionen, im Wechsel der Perspektiven, im
gemeinsamen Lernen. Unser Gott ist ein Gott des Weges und nicht des Stillstands. Seine Wege
führen nicht zurück, sondern nach vorn. Der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte war
stets ein Weg des Wandels und des Aufbruchs, ein Weg des Loslassens und Abschiednehmens,
aber auch ein Weg des Neubeginns.
V.
Im Glauben an die Verheißung, dass Gott uns in Christus und mit Christus auf einen Weg in die
Weite führt, wünsche ich Ihnen, liebe Schwestern und Brüder in unserem Bistum Essen, sowie
allen, die mit uns verbunden sind, Gottes Nähe und Weggeleit. Von Herzen wünsche ich Ihnen
Zuversicht, Gesundheit und Lebenskraft für das vor uns liegende Jahr 2022!
Ihr
Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen